Einige Leute – sehr viele sogar – behaupten, es würde keine halben Treppen geben. Ich aber kann mit Bestimmtheit versichern, dass es halbe Treppen gibt. Am Ende unserer Straße steht nämlich tatsächlich eine halbe Treppe. Sie ist natürlich schon sehr alt, aber zweifellos die schönste halbe Treppe, die ich kenne. Sie führt zu einer leeren Wohnung. Vielleicht sollte ich besser sagen: zu einer verlassenen Wohnung. Denn sie ist nicht im eigentlichen Sinne des Wortes leer. Im Gegenteil, die roten Teppiche sind von Ungeziefer zerfressen, die Farben der Bilder leise abgebröckelt, und die Wände biegen sich schief. Alles wird zusätzlich vom Staub der Jahre zerdrückt und versteckt. In einer Ecke liegt ein Haufen alter Kleider, braunfleckig und ebenfalls voller schäbiger Löcher.

 

Die Wohnung ist also keineswegs leer, und im Grunde ist es eine schöne Wohnung; ebenso, wie es eine schöne halbe Treppe ist, die zu der Wohnung hinaufführt. Ihre Stufen sind kaum noch als Stufen erkennbar, doch die Stäbe an ihren Seiten, die einst das Geländer gehalten hatten, streckten sich immer noch kerzengerade. Sie sind weniger schön, mager und stolz, aber sie lassen mit Gewissheit darauf schließen, dass das Geländer, das früher auf ihnen lag, ein Besonderes gewesen sein muss. Das sieht man auch an den kleinen Resten des ehemals so elegant geformten Holzgeländers, die schmutzig und zerbrochen am Fuß der halben Treppe liegen.

 

Immer wenn ich zur halben Treppe gehe, beuge ich mich nieder und betrachte die Reste des Holzgeländers. So fand ich schließlich heraus, dass in das geschliffene Holz des Geländers fröhliche Verzierungen eingebracht gewesen sein mussten. Die Verzierungen waren als solche verständlicherweise nicht mehr zu erkennen, aber ertasten ließen sie sich immernoch gut.

 

Leider fehlt die dritte Stufe völlig, die achte zum Teil. Die linke Ecke der achten Stufe hängt noch planlos in der Luft, mühsam gehalten von der siebten und neunten Stufe. Niemand vermochte mir je zu sagen, was mit der dritten Stufe passiert sei, was natürlich merkwürdig ist. Denn wer hatte wohl jemals Interesse daran, die dritte Stufe einer halben Treppe herauszureißen? Noch dazu einer so schönen halben Treppe. Selbst wenn die Stufen verformt und ausgetreten sind, selbst wenn die dritte Stufe ganz und die achte Stufe zum Teil fehlt, ist nicht zu übersehen, dass man sich damals sehr viel Mühe mit der halben Treppe gegeben haben muss. Und das ist doch sehr verwunderlich, wenn man bedenkt, dass es die allerletzten Stufen im Haus sind und die Menschen dazu neigen, gerade diese Stufen außer Acht zu lassen. Die halbe Treppe führt nämlich ins Dachgeschoss, wo die eben beschriebene verlassene Wohnung wartet. Seltsam ist auch, dass diese Wohnung immernoch verlassen ist. Ihre Bewohner werden sie wohl kaum freiwillig verlassen haben. Außerdem ist es eine wartende Wohnung (aber das bringt natürlich auch die Zeit mit sich): sie ist bemerkenswert sorgfältig eingerichtet, wie zum Beispiel die Bilder mit den inzwischen leise abgebröckelten Farben beweisen. Wenn ich traurig bin, gehe ich immer zur halben Treppe. Es ist sehr tröstend, eine halbe Treppe in der Nähe zu haben und die feinen eingeritzten Rillen zu ertasten, die einst das elegante Geländer verziert haben müssen. Es ist auch sehr tröstend, vorsichtig über die wackeligen Stufen zu springen, die als solche kaum noch auszumachen sind. Und am allertröstlichsten ist es, sich an die Wand der Wohnung zu lehnen, oberhalb der halben Treppe und neben der immer offenstehenden Tür der verlassenen Wohnung, um dann ruhig die Augen zuzumachen. Allerdings ist das nicht nötig. Durch das lichte Dach der Wohnung und das zerbrochene Fenster am Fuße der Treppe fällt gerade genug Licht ohne zu blenden. Wenn es regnet, tropft es durch die zerbrochene Fensterscheibe am Fuße der Treppe und durch die löchrige Decke in der Wohnung. Dann fließt das Wasser durch die Wohnung, über den Treppenabsatz, auf dem ich, neben der stets geöffneten Tür an der Wand der Wohnung lehne, die Stufen hinunter, und sie werden nass. Und dann sehen die Stufen, die zwar nicht sofort aus solche auszumachen sind, die mir aber doch jeder bei aufmerksamer Betrachtung als Stufen einer halben Treppe bestätigen wird, noch freundlicher aus als sonst. Ihr rötlichbrauner Farbton verfärbt sich dunkler, wird fast schon schwarz und mitunter zeichnen sich seltsame Muster ab, besonders an den Stellen, an denen die Stufen am abunddurchgetretesten sind und in denen sich – das jedoch nur bei heftigen Regenfällen – kleine schimmernde Pfützen bilden.

 

Mir tun alle Leute leid, die halbe Treppen verleugnen oder sie als lächerlich abwinken, noch mehr tun mir die Leute leid, die nicht wissen, wo sie eine halbe Treppe finden können und also gar keine Möglichkeit haben, sich oberhalb einer halben Treppe an die Wand einer verlassenen Wohnung zu lehnen und die verformten Stufen zu betrachten, selbst wenn die dritte Stufe fehlt (merkwürdig) und die achte nur noch zum Teil in der Luft hängt. Und dann frage ich mich natürlich auch, warum nur noch so wenige halbe Treppen gebaut werden. (Ich bin nicht mal sicher, ob überhaupt noch halbe Treppen gebaut werden.)